Die
Inexistenz der Geschichte
Abschwörung
Sie
sind gekommen, um einen Film zu sehen, dem die Aura des Skandals, des Mythos
und der Ablehnung anhaftet. Der Film, den Sie sehen werden, ist jedoch ein Film
von seltener Schönheit, jener gewaltsamen Schönheit, die als schonungslose
Wahrheit auf die Realität strahlt, ein Film, der von einer stringenten
Konstruktion lebt, ein Film auch, der uns dazu bringt, mit weit geöffneten
Augen in das Labyrinth unserer Ängste einzudringen.
Der
Film wurde zu einem Skandal, wohl auch
aufgrund dessen, was man auf der Leinwand zu sehen glaubte. Auch gewisse
Intellektuelle ergriffen Partei gegen diesen Film und warfen Pasolini vor, eine
Art implizites Tabu gebrochen zu haben, das in den nicht in Bilder zu
übersetzenden Texten des Marquis de Sade lag. Doch gerade auch gegen diese
neuartigen Ikonoklasten gelang es Pasolini, aufzuzeigen, dass es möglich war,
nicht einfach de Sade umzusetzen, sondern die Fragen zu vermitteln, die sich
durch seine Bilder aufdrängen.
Der
Film wurde schon vor seinem offiziellen Start durch den Tod Pasolinis zu einem
Mythos. Pasolini wurde wenige Tage zuvor ermordet. So war es unvermeidlich, in
dem Film Zeichen eines Testaments aufzuspüren, das gar keines war. Man konnte
genügend Indizien dafür finden, dass sich Pasolinis Position radikal geändert
hatte. Es war eine Abkehr von früheren Positionen, die er selbst in einem
wichtigen Text mit dem Titel „Abschwörung von der Trilogie des Lebens“
erläuterte. Er hatte den Text am 15. Juni 1975 geschrieben, er wurde aber erst
nach seinem Tod am 9. November im Corriere della Sera veröffentlicht.
Für
all jene, die sich damit begnügen, den Film durch eine Art Filter zu
betrachten, den ihre Moral zwischen die Bilder und ihre Bedeutung legt, werden
vielleicht nur abstoßende Dinge zu sehen sein. Man muss hier vielleicht
anmerken, dass sie mehr abstoßende Dinge in den Szenen des zweiten Zyklus, des
Zyklus der Exkremente sehen werden, als in den anderen, da man ja schon seit
vielen Jahren gewohnt ist, vielen Formen der realen oder fiktiven Gewalt auf
den Fernsehbildschirmen zu begegnen. Diese radikale und zugleich
rückschrittliche Transgression, wie sie uns im uneingeschränkten Verzehr von
Exkrementen begegnet, dreht einem den Magen um, und sei dies auch nur in
Gedanken. Gegenüber solchen Praktiken gibt es jedoch weniger Abscheu als
gegenüber vielen anderen, die heutzutage als akzeptabel gelten, wie etwa die
sofortige und nicht hinterfragte Verarmung von ganzen Völkern im Namen
politischer Interessen, ohne unmittelbaren Kontakt zu diesen Völkern, oder
anhand willkürlicher wirtschaftlicher Kriterien, so als würde man am lebenden
Objekt experimentieren, um Reaktionen und Risiken besser studieren zu können,
um Vor- und Nachteile solcher Unternehmungen für wichtigere Fälle abschätzen zu
können, oder als würde man diese Experimente ohne jeglichen realen Grund
veranstalten, als reine Machtausübung. Jene, die von ihren Büros in der
nördlichen Hemisphäre aus solche Verbrechen beschließen, gehen völlig straffrei
aus. Dies gilt auch oft für jene, die sie ausführen. Pasolini wusste dies und
nahm dies nicht einfach hin. Er reagierte darauf, aber auf seine Weise eben.
Als
er 1975 den Film „Salo oder die 120 Tage von Sodom“ dreht, ist Italien in die
Qualen eines bewaffneten Kampfes verstrickt, eines Terrorismus, dessen
Beziehung zum Staat und zu wirtschaftlichen und politischen Machtinteressen
offensichtlich ist. Pasolini analysiert immer wieder jene engen Verflechtungen
zwischen der Maschinerie des Staates und internationalen wirtschaftlichen und
mafiösen Mächten wie etwa der CIA und die Auflösung der Formen einer sozialen
Organisation, die glauben machten, dass die Welt durch die Konsumgesellschaft
besser geworden wäre. Ein Artikel in der Zeitung Il Mondo vom 28. August 1975 -
hier müsste man die Machtinhaber der DC zur Rechenschaft ziehen - vermittelt
sehr klar seine Haltung zum oben genannten Aspekt. So schreibt er
beispielsweise, dass den Machtinhabern der DC „unzählige Verbrechen zur Last gelegt
werden könnten, die ich aus rein moralischer Sichtweise nenne: Gemeinheit,
Verachtung gegenüber den Bürgern, Manipulation öffentlicher Gelder,
Verstrickungen mit der Mafia, Hochverrat zugunsten einer ausländischen Macht,
Kollaboration mit der CIA, Verantwortung für die Massaker von Mailand, Brescia
und Bologna, Zerstörung der Landschaft und urbaner Strukturen in Italien
(erschwert durch das völlige Fehlen eines Gewissens), Verantwortung für den,
wie man sagt, erschreckenden Zustand von Schulen, Krankenhäusern und aller
wichtigen öffentlichen Einrichtungen, Verantwortung für die „Verwilderung“ der
Massenkultur und der Medien, Verantwortung für die kriminelle Verblödung durch
das Fernsehen, Verantwortung für die Dekadenz der Kirche und schließlich, zu all
dem, die Verteilung politischer Ämter an ergebene Gefolgsleute, die an die
Herrschaft der Bourbonen in Italien erinnert“. (Lutherbriefe, S. 132) Alle eben
erwähnten Themen waren Ausgangspunkt einer Reflexion, die Pasolini dazu trieb,
den Film Salo zu realisieren. Zudem spielt noch die Reflexion über den Körper
eine entscheidende Rolle. Sie führt einerseits dazu, dass er der Göttlichen
Trilogie abschwört und sich andererseits in das Projekt Salo stürzt. „Ich
schwöre der göttlichen Trilogie des Lebens ab, auch wenn ich es nicht bedauere,
sie realisiert zu haben. Denn ich kann die Aufrichtigkeit und Notwendigkeit
nicht leugnen, die mich dazu geführt haben, den Körper und sein Hauptsymbol,
das Geschlecht, darzustellen.../Jetzt erscheint alles auf den Kopf gestellt.
Erstens:
Der scheinbar fortschrittliche Kampf für die Demokratisierung des Ausdrucks und
für die sexuelle Befreiung erscheint auf brutale Weise veraltet und obsolet
durch die Entscheidung der konsumistischen Mächte, dem allen mit einer solch
breiten und falschen Toleranz zu begegnen.
Zweitens
wurde die „Realität“ unschuldiger Körper selbst durch die konsumistische Macht
vergewaltigt, manipuliert und denaturiert. Mehr noch, diese Verletzung der
Körper wurde zum makroskopischen Phänomen der neuen Epoche.
Drittens,
das private Sexleben (wie das meine) war sowohl dem Trauma jener falschen
Toleranz wie auch der Abwertung des Körperlichen ausgesetzt, und was in
sexuellen Phantasien Schmerz und Freude war, wurde selbstmörderische
Enttäuschung, formlose Leblosigkeit“. (Lutherbriefe, s. 82)
Am
Schnittpunkt jener Problematik, den massiven Entgleisungen der Macht und den
gewaltsamen Veränderungen in den Beziehungen der Körper, d.h. zwischen den
Menschen, steht die Arbeit Pasolinis über Salo. Aber auch wenn Salo ganz und
gar von politischen Fragestellungen bestimmt und definiert wird, so werden
diese in dem Film umgekehrt, oder vielmehr an ihre Grenzen geführt. Es geht um
eine ganz andere Dimension als jene des ideologischen Kampfes. Es geht um
existentielle Fragestellungen über die Zukunft des Menschen, über die
Geschichte und die Frage des Bösen.
Macht
In
einem der Momente im Film, wenn die vier Protagonisten über philosophische
Beweggründe ihres Handelns diskutieren, bemerkt einer von ihnen, dass man immer
das genießt, was die anderen nicht haben. Georg Simmel schrieb dazu schon im V.
Kapitel seiner Soziologie von 1908 (S.337-402) mit dem Titel „Das Geheimnis und
die geheime Gesellschaft“: „Für viele ist das, was sie als Eigentum bezeichnen,
nicht das Besitzen im positiven Sinne des Wortes; sondern es geht ihnen darum
zu wissen, dass die anderen dies nicht besitzen“. Was sie in diesem Fall nicht
besitzen, sind sie selbst, der Besitz des Körpers. Sie werden dazu gebracht,
die Erfahrung zu machen, dass der Körper, durch den sie sich als Individuen ja
nicht unterscheiden, zu einem Objekt wird, über das die anderen nach Lust und
Laune verfügen können. Sie selbst besitzen ihn nicht mehr. In der Sprache der
Leidenschaft, sie gehören sich nicht mehr selbst. Was in der Leidenschaft
stattfindet, ist eine tiefe Bewegung der Selbstentäußerung und gleichzeitig
eine Bewegung in Richtung der Begegnung mit einem anderen, der auch wieder jene
Stufen durchläuft. Der Verlust der Subjektivität geht einher mit einer Art
Intensivierung der Gefühle. In der Darbietung des Körpers an jemand anderen
spiegelt sich die Hingabe des Körpers des anderen. Der Verlust des Ich
verdoppelt sich in einer Art Besitzergreifung des anderen, trügerisch aber
effektiv.
Salo
hingegen zeigt uns Körper, die entführt wurden und die aufgrund dieser
Entführung anderen Körpern dienen, die sie ganz als ihren Besitz verstehen.
Diese Körper werden aber auch nicht mehr als wertvolles Gut aufgefasst, sondern
vielmehr als Gut ohne Wert. Das
entführte Individuum ist also doppelt negiert, als soziales Wesen und
als Person. Diejenigen, die Besitz ergriffen haben, finden sich in der Position
dessen wieder, der über diese Körper wie über einen Gegenstand verfügen kann.
Ihre soziale Position entspricht der von Agenten aus den obersten Schichten der
politischen Macht, die in der Region regiert, in der sich die Ereignisse
abspielen. Wenn man sich den Dingen nur auf diese Weise nähert, so scheint es,
als hätte man es hier allein mit einem Machtmissbrauch zu tun, möglich geworden
in einem bestimmten Augenblick der Geschichte, unter besonderen Umständen. Die
Entscheidung Pasolinis, die Handlung seines Films in die Jahre der Republik von
Salo zu legen, ist in diesem Sinne nicht so harmlos. Diese Marionettenrepublik
wurde von den deutschen Nazis eingesetzt, um die Illusion einer vagen
politischen Legitimation des Duce und der italienischen Faschisten
aufrechtzuerhalten, zu einem Zeitpunkt, als Italien zu einem Großteil durch
amerikanische Kräfte befreit worden war. Mit anderen Worten, alle Umstände
spielen mit, um nicht unbedingt einen Ausnahmestaat für die ganze Bevölkerung,
so doch eine Ausnahmesituation innerhalb eines außergewöhnlichen Staates
darzustellen. Dennoch, sich mit dieser Analyse zu begnügen und in dem Film die
Darstellung exzessiver Handlungen zu sehen, die durch einen Ausnahmemoment der
Geschichte ermöglicht wurden, hieße, das Wesentliche der Geschichte zu
verfehlen und würde aus diesem Film eine wohl gewaltsame aber dennoch ziemlich
willkürliche Denunzierung des Willkürlichen machen.
Der
Rückgriff auf das Werk de Sades als roter Faden des Films zeigt uns, dass es
hier tatsächlich um etwas anderes geht, um die tiefer gehende intime und
existentielle Schicht der menschlichen Psyche. Der Begriff Macht hat noch eine
wesentlichere Bedeutung als die einer Gesamtheit von Abläufen und technischer
Mittel, die die Menschen dazu bringen, eine Ordnung zu respektieren oder sich
ihr zu unterwerfen. Der Begriff impliziert auch die Möglichkeit des
Realisierens, er steht für die Macht, das Potentielle oder Mögliche zu etwas
Realem zu machen. Die Frage nach der Macht in Bezug auf eine politische
Thematik kommt zu jener nach den Funktionskriterien, nach denen eine
Möglichkeit realisiert werden kann oder nicht, dazu. Pasolinis Film führt uns zu
den Bedingungen des Möglichen in Bezug auf deren Realisierung.
Pasolini
selbst erklärt in einem Interview, das uns jetzt auf der DVD von Salo
zugänglich ist, dass er sich für den Film nach de Sade nur deshalb entschieden
habe, weil er eine Art Eingebung hatte, nämlich den Zeitrahmen der Handlung vom
18. Jahrhundert in die Jahre der Republik von Salo zu verlegen. Doch es ist
klar, dass, sollte man dies als eine Art Autorisierung verstehen, die er sich
selbst gibt, um sich in dieses schreckliche Abenteuer zu stürzen, dies nicht
genügt, um die ganze Bedeutung des Films zu erfassen. Vielmehr erlaubt es
Pasolini, sich viel schwieriger zugänglichen Fragestellungen zu widmen. Worum
geht es? Um nichts Geringeres als den Status des Gesetzes selbst.
In
der Tat beginnt der Film mit der Ratifizierung eines Gesetzescodes zwischen den
vier Protagonisten, der mit der detaillierten Beschreibung von Regelwerken
beginnt, denen die zukünftigen Protagonisten der Geschichte unterworfen sein
werden, wenn sie einmal Gefangene und jenen Menschen ausgeliefert sein werden.
Dies alles geschieht ohne Ironie, bei Pasolini ebenso wenig wie bei de Sade,
sondern es geht um die Akzeptanz des Faktischen, die nie oder nur selten
hinterfragt wird und die dennoch bestimmend ist für das gemeinsame Leben der
Menschen, um den Status des Gesetzes, das sie verbindet und der Gesetze, die
sie sich geben. Das Gesetz, das in dieser geheimen und geschlossenen
Gesellschaft für die Zeit ihrer Verbrechen regieren wird, ist ein ganz und gar
willkürliches Gesetz, aber es wird deutlich, dass uns dieses Gesetz nur deshalb
als willkürlich erscheint, weil es den impliziten Regeln widerspricht, die das
gemeinschaftliche Leben der Menschen bestimmen. Dieses andere Gesetz, unser
Gesetz, ist im Grunde ebenso willkürlich. Gewiss, man kann sagen, dass es das
Überleben der Spezies sichern will, während jenes Gesetz, das in der geheimen
Gesellschaft herrscht, auf die Vernichtung der Spezies zielt. Man sollte sich
nicht täuschen lassen, auch wenn es legitim ist, dies zu glauben, das Schloss,
in dem sich die vier Männer und ihre Opfer einschließen, ist kein
Konzentrationslager, wie etwa bei den Nazis, sondern ein Ort, an dem mit
Entschlossenheit die Vernichtung der Grundlage betrieben wird, auf der unsere
Überzeugungen basieren. Das Werk de Sades und auch Pasolinis Film sind ein
Versuch, uns mit den, wenn auch äußerst fragwürdigen, Grundlagen dessen zu
konfrontieren, was wir als das Beste unserer Welt bezeichnen, die Kultur. Die
Menschheit kann jedoch Menschen hervorbringen, man bezeichnet sie als Monster,
die Möglichkeiten des Menschen und somit seine Werke ans Tageslicht bringen,
wie es zum Beispiel die Gesetze sind.
Wie
steht es mit der menschlichen Güte, mit der Möglichkeit, seinem Schicksal zu
entrinnen, ein Wesen ohne Bedeutung in einem Universum zu sein, das sich nicht
für seine Kreaturen interessiert, in einer Welt, ohne Gott also, das ist die
wesentliche Frage, der Kernpunkt. Wir würden gerne an unsere Wichtigkeit im
Universum glauben. Es ist möglich, nicht daran zu glauben. Diese Möglichkeit
ist es, diese Macht also, die diese vier Männer verkörpern. Jenseits der
offensichtlichen Grausamkeit ihrer Handlungen konfrontieren sie uns armselige
Menschen, die wir es nicht wagen, an die Grenzen unserer Sehnsüchte zu gehen,
an jene Grenzen, die uns einengen und die sich Angst und Mitleid nennen.
Symmetrie
und Gesetz
Sie
kennen jetzt die Rahmengeschichte des Films: Vier Männer beschließen, sich mit
vier Frauen einzusperren, professionelle Prostituierte, die wie die Männer alle
Wege der Sünde gegangen sind, und mit etwa dreißig jungen Männern und Frauen,
die sie entführen ließen, um unbegrenzt ihren Sehnsüchten nachgehen zu können.
Drei der vier Frauen werden drei Monate lang jeden Tag von menschlichen
Leidenschaften erzählen, von einfachen Leidenschaften zu immer komplexeren,
gewalttätigeren und radikaleren, und die Männer werden diese Akte den
Erzählungen entsprechend in Taten umsetzen. Die Vernichtung der Körper, die
ganz unter ihrer Macht stehen, ist von Beginn an intendiert und stellt den
Höhepunkt jener langen Tage der Ausschweifungen dar.
Pasolinis
Film nimmt sich Freiheiten gegenüber dem Buch von de Sade heraus. De Sades Buch
ist unvollendet und wurde zumindest vom Autor als verloren betrachtet (das
Manuskript wurde lange nach seinem Tod gefunden). Dennoch folgt er genau de
Sades Text in den Ausschnitten, die er im Film verwendet. Die Tatsache, dass er
einen Film realisierte, der von einem Text ausging, der nicht in Bilder
umzusetzen ist und der in manchen Beschreibungen mehr an die Traumwelt eines
Hieronymus Bosch als an eine nüchterne Darstellung der Realität erinnert, führt
uns zu der Frage, was darstellbar ist, nicht von einem moralischen oder
technischen Standpunkt aus, sondern in einem ästhetischen Sinn, der als Träger
der Wahrhaftigkeit der Empfindungen erscheint.
Der
Film spiegelt und stellt dar, was wir als inneren Kernpunkt des Dramas
ausgemacht haben: den Konflikt zwischen Körper und Gesetz. Und die Art und
Weise, wie er es darstellt, folgt zugleich starken ästhetischen Gesichtspunkten
wie dem Ort und auch gewissen Filmtechniken.
Der
Konflikt zwischen dem Körper und der Willkürlichkeit des Gesetzes, der an
diesem Un-Ort der Geschichte stattfindet, spiegelt sich im Gegensatz zwischen
der allgemeinen Symmetrie der Orte wie etwa der Raumordnung in den Hauptsälen,
in denen sich die Handlung abspielt, und den potentiell entarteten Bewegungen
der Körper. Die Symmetrie, wie sie etwa ganz explizit in der Ordnung sichtbar
wird, wie sie der menschliche Geist begreifen und realisieren kann, kann als
radikale Manifestation des Gesetzes verstanden werden. In diesem Film erscheint
sie als das wirkungsvollste Werkzeug, um aus dem Leben offene und willige
Körper zu formen und sie von der Seele oder von der Persönlichkeit zu trennen,
die die Körper schützen sollten. Sie ist auch das wirkungsvollste Werkzeug, um
das Fleisch aufzuschneiden.
(Filmausschnitt:
Bild der Körper eines jungen Ehepaares, ehe sie verschmelzen bis zum Augenblick
ihrer Trennung)
Diese
Omnipräsenz der Symmetrie, die Pasolini so wunderbar durch die de sadesche
Erzählung in der Anordnung der Räume umsetzt, macht aus dem Ort, an dem die
Handlung spielt, den Bedeutungsträger des Verbrechens. Um eine Bemerkung von
Georg Simmel abzuwandeln, der über das
Geheimnis und das Böse sagt, „Wenn das Geheimnis nicht direkt mit dem Bösen
verbunden ist, so ist das Böse unmittelbar mit dem Geheimnis verbunden“
(a.a.O.,S. 41), so könnte man hier sagen, wenn das Gesetz nicht Teil des
Verbrechens ist, so ist das Verbrechen Teil des Gesetzes. Das Gesetz ist seinem
Wesen nach willkürlich. Es zeichnet und umreißt den Raum des Möglichen und fügt
Linien ein, Winkel, Grenzen, Formen, da, wo zuvor nichts war. Die Symmetrie,
die sich als Manifestation seiner Essenz darstellt, obwohl sie doch nur Möglichkeit
ist, zieht ins Herz des Raumes, der von den Menschen geschaffen wurde, Grenzen,
Winkel, ein Außen und Innen. Wenn man weniger an die Zimmer als an die Säle der
verschiedenen Praktiken denkt, die die Erzählungen miteinander verbinden,
versteht man, wie die Symmetrie einen anderen Raumtypus jenseits ihrer selbst
impliziert. Hier ist dieser andere Raum, dieses potentielle Außen, in den Raum
des Gesetzes eingeschlossen, repräsentiert durch das Schloss mit den Menschen,
die dort gefangen sind. In diesem Sinne ist das Gefängnis des Gesetzes absolut:
Was man für sein Außen hält, den Raum einer möglichen Freiheit, ist noch im
absoluten Raum des Gesetzes eingeschlossen.
So
müssen wir akzeptieren, dass ein Film wie „Salo“ oder Texte wie von de Sade
wahre Maschinen sind, die die Grenzen des Menschen erforschen, der konzipiert
ist als Frucht einer Kultur, zugleich als Körper, als Wille und als Einheit
aller drei Elemente, eine äußerst fiktive Einheit, die uns an die Existenz von
so etwas wie einer Person, eines Ich, eines individuellen oder auch
geschichtlichen Subjekts glauben lässt. Diese Texte sind auch wahrhaftige Orte
der Hinterfragung der Wahrheit. Von welcher Wahrheit sprechen wir hier? Es geht
um die Wahrheit in Bezug auf die Möglichkeit der menschlichen Freiheit. Diese
Freiheit, sie existiert ganz einfach gar nicht. Dies zu glauben ist eine Art
Selbstverblendung durch die wiederholten Fiktionen derer, die uns umgeben,
durch die Welt, in der wir leben, durch unsere Kultur und Erziehung. Pasolinis
Salo ist der einzige Film in der Geschichte des Kinos, der auf unbarmherzigste
Weise, dadurch, dass er erzählt und auch durch die Art, wie er dies macht, jene
Fiktion hinterfragt, die darin besteht, dass der Mensch frei ist oder es
zumindest sein könnte. Das menschliche Denken glaubt immer noch an diese
Freiheit.
Es
gibt eine Art Experiment, um dies zu hinterfragen. Es ist der Moment, in dem
die Körper im zweiten Zyklus gezwungen werden, sich den Exkrementen zu stellen.
Die Beziehung zu den Exkrementen stellt den äußersten Punkt einer symbolischen
Regression dar. Der freiwillige oder erzwungene Verzehr von Exkrementen
bestimmt den Punkt, an dem sich alles umkehrt. Es ist die Grenze der Sehnsucht,
als Sehnsucht nach einem trotz allem nicht abstoßenden Objekt. In seiner
Stofflichkeit und Bedeutung definiert das Exkrement die symbolische Grenze des
Abstoßenden. Jenseits davon sieht man sich in eine Welt geworfen, die nur noch
Zu- oder Abnahme von Intensitäten kennt, aber keine Grenze im moralischen Sinne
mehr. Aus diesem Grund ist der Zyklus der Exkremente in „Salo“ als
eschatologische Obsession der Charaktere de Sades so wichtig. Pasolini folgt
diesem Gedanken, indem er als Abschluss des Zyklus der Exkremente junge Mädchen
zeigt, die in einem mit Exkrementen gefüllten Becken gefesselt sind. Man glaubt
sich in einer Szene aus der Unterwelt der Göttlichen Komödie von Dante, und das
theatralische Element dieses Moments wird in dem radikalen Drama sichtbar, als
eines der jungen Mädchen, das immer wieder betont, was sie in einem anderen
Leben in der Kirche gelernt hat, ein „Mein Gott, warum hast du mich verlassen“
herausschreit, worauf wir nicht anders als lachen können, aufgrund der
Situation - und zugleich erschaudern wir, da wir wissen, wie sinnlos dieser
Satz ist. Es gibt keine Hoffnung. Dieses radikale Fehlen jeglicher Hoffnung
empfinden die Figuren im Film wie auch die Zuseher. In diesem Sinne ist die
geschlossene Gesellschaft in Salo vielleicht allgemein und im besonderen als Metapher
der menschlichen Existenz zu sehen. Wir alle wissen, dass Gott eine Fiktion,
dass Christus eine literarische Fiktion ist, dass er als solcher niemals
existierte, sondern als Frucht einer Kompilation vielfältigster Erfahrungen,
die im Laufe von Jahrhunderten gesammelt wurden, oder wie es Marquis de Sade
Domancé sagen lässt, als er die Mutter der jungen Eugénie quält, die er am
selben Tag entjungfert hat und die versucht, sich gegen ihn zu wehren, „Ruf ihn
nicht an, meine Liebste, er wird deiner Stimme gegenüber stumm sein, wie er es
gegenüber allen Menschen tut. Niemals hat sich der allmächtige Himmel um einen
Hintern gekümmert“ .(Philosophie im Boudoir, 7. Dialog)
Von
da an ist alles möglich. Und diese Form des Möglichen erforscht dieser Film.
Man muss verstehen, dass es diese Möglichkeit irgendwie schon seit Ewigkeiten
gibt, sie liegt in allen menschlichen Bemühungen, sie ist ihre Kehrseite, die
absolute und wahrhaftigste Kehrseite, der verdammte Teil der Realität, die
vergessene Seite, die man das Böse nennt. Das Böse, so weiß man, ist der
Spiegel der Leidenschaften, oder es zeigt sich zumindest in ihren Spiegelungen.
Salo ist solch eine durch und durch rätselhafte Spiegelung.
Der
Blick und die Unmöglichkeit der Geschichte
Drei
große Teile jener allgemeinen Fiktion, die mit unserer Verblendung über die
realen Bedingungen unserer Existenz einhergehen, haben wir bis jetzt gesehen,
es sind dies die Fiktion der Einheit der Person, die man das Ich nennt, das
Bewusstsein oder Subjekt, die Fiktion des Gesetzes, das es den Menschen
ermöglicht, zusammen zu leben, und die Fiktion Gottes als eines allgemeinen
Garanten für die Legitimität des Gesetzes. Um zu wissen und zu verstehen, muss
man sehen, muss man mit seinen eigenen Augen gesehen haben. Etwas zu sehen bedeutet
in unserer Kultur, eine Erfahrung zu machen, oder wenigsten kann man sagen,
dass Sehen der Akt ist, der diese Quasi-Erfahrung mit einem, wenn auch
vielleicht hypothetischen, Ich in Bezug setzen kann und der in einer Bewegung
das Ich und das Bewusstsein, in dem sich die Erfahrung widerspiegelt,
konstituiert. Sehen bedeutet, dass das Reale wieder zu einem Bestandteil des
Denkens wird und eine Parallele ermöglicht zwischen dem einen und dem anderen
und auch ein Wechselspiel an Bezügen und Spiegelungen, die zwischen dem realen
und dem Wahrgenommenen vermitteln.
Im
letzten Teil des Films, dem Zyklus des Blutes oder auch des Todes, könnte man
glauben, dass Pasolini sich damit hätte begnügen können, einfach die
Hinrichtungen der Opfer und die damit einhergehenden Qualen zu zeigen. Dies
hätte aus diesem Film einen banalen Hardcore Film gemacht. Der Kern des Films
besteht jedoch nicht in der Darstellung selbst, sondern darin, sich der
Tatsache des Sehens zu stellen, für denjenigen, der etwas tut und dem, der ihm dabei
zusieht. Sehen oder etwas gesehen zu haben, bedeutet letztendlich etwas wahr
genommen zu haben. Aber worum geht es? Geht es um etwas, bei dem uns die
Wahrnehmung hilft, uns der Wiederholung zu entziehen? Geht es um etwas
Schreckliches, von dem uns das Wissen darüber erlösen könnte? Wenn so etwas
möglich wäre, könnte das Gewissen sozusagen gerettet werden und mit ihm die
Welt. Die Existenz des grundsätzlich Bösen und die Akzeptanz dieser Tatsache
als geheime Manifestation des Realen würde es jedoch ermöglichen, das Gewissen
mit seiner Macht zu konfrontieren, die darin bestünde, es auszurotten.
Stellen
wir uns noch einmal diese Frage in Bezug auf die Bilder des Films. Weshalb
dreht Pasolini ein so schreckliches sublimes Ende und lässt uns diese Szene durch
ein Fernglas beobachten, durch die die vier Henker, einer nach dem anderen, die
Akte der Barbarei verfolgen, denen sich die anderen drei gerade hingeben?
Der
Blick spielt in der Ökonomie des Films eine entscheidende Rolle. Er fungiert
als Metapher für die Kernaussage des Films. Die Essenz des Films ist die Frage
nach der möglichen Existenz eines Subjekts der Geschichte und in noch weiterem,
aber auch tragischerem Sinn, die Frage nach der Existenz von Geschichte
überhaupt. Man muss sich für einen kurzen Moment in den Kontext jener Epoche
versetzen. Die marxistische Doktrin, die zur Zeit, als Pasolini diesen Film
drehte, vorherrschend war, propagierte die Geschichte als neuen Gott. Dem
gegenüber wurde die Kirche nicht müde, glauben zu machen, dass es durch einen
dem Verlauf der Geschichte nicht unähnlichen Prozess möglich wäre, die Menschen
dem anzunähern, was Musil einen anderen Zustand, eine andere Form der Existenz
nannte, an eine Existenz also, in der es das Böse und damit die Wiederholung
derselben Taten nicht gäbe und dessen Paradigma der Sex wäre. Jahrtausendwende
oder Gesellschaft ohne Klassen hin oder her, der theologisch-politische Traum
der Menschen in Europa im 3. Jahrtausend ist zerronnen, nicht nur durch den
zweiten Weltkrieg, sondern auch durch das, was in der Nachkriegszeit an Stelle
des Beweises für ein Streben nach dem Guten nur verschleierte, dass die
Menschen immer wieder dieselben Handlungen vollziehen, jene Taten also, für die
Pasolini die Machthaber der Democratia Christiana und ihre marxistischen Pseudogegner
verantwortlich machte.
Die
Jahrtausendwende und das Ende der Geschichte können nun als die beiden Seiten
des symmetrischen Gebildes verstanden werden, wie es der Dekor des Films Salo
konstituiert, und der Film Salo kann als Gegenbeweis aufgefasst werden, der in
diese Symmetrie eindringt und ihre Vollendung in einer radikalen Gewalt
widerspiegelt, jene Gewalt, die sie auf die Körper ausübt, die ihr ausgeliefert
oder dargeboten werden.
Man
muss hier ganz deutlich werden. Gleich und damit auch zum ersten Mal werden Sie
Bilder sehen, die für viele von Ihnen unerträglich und moralisch
verabscheuungswürdig sind. Was sie zeigen, ist die noch immer mögliche Reaktion
des menschlichen Geistes, des menschlichen Denkens auf die Voraussetzungen
einer Lüge, die nicht so sehr historisch als vielmehr ontologisch ist und die
unter dem Namen Gottes, des Menschen oder der Geschichte erscheint, oder auch
des Glaubens an das Gute und die Erlösung des Körpers und der Seele. Die vier
Hauptakteure des Films sind vielleicht weniger Monster als äußerst mutige
Menschen, weil sie dorthin zu gehen wagen, wo andere nicht mehr hingehen, weil
sie uns zu unserem Körper führen, verteidigen, wo wir nicht gewagt hätten,
hinzugehen. Dieses Schloss jedoch, diese Welt, in der die Kehrseite des
Gesetzes herrscht, ist durch und durch glaubwürdig oder, wenn man so will,
symmetrisch zu der Welt, in der wir leben. Das Gesetz, das dort herrscht, ist
nicht willkürlicher als das, das in der normalen Welt herrscht, es entspricht weniger
unseren kulturellen Gegebenheiten, das ist alles. Die Welt im Schloss ähnelt
unserer Welt, sie ist nur gewalttätiger, weil sie mehr dem Unerträglichen
ausgesetzt ist. Hier wird niemand vor dem Unerträglichen geschützt, es steht im
Mittelpunkt des Geschehens, das ist alles. Niemand verübelt Freud, dass er das
Unbewusste erfand. Warum sollte man nun de Sade oder Pasolini vorwerfen, uns zu
zeigen und zu sagen, dass dieses Unerträgliche existiert, das man gelegentlich
als das Böse bezeichnet? Die Welt, die wir in diesem Film sehen, ist unsere
Welt, reduziert und konzentriert, ohne Arrangements, die die Gewalt
verschleiern und die Willkürlichkeit des Gesetzes, ohne den Verzicht, der uns
die Lüge und das Vergessen akzeptieren lässt, um unser gutes Gewissen und
Wohlbefinden zu erhalten.
Was
diese Männer durch das Fernglas beobachten und womit diese Männer konfrontiert
werden, die den Zuseher zu absoluten Zeugen ihrer Verbrechen machen, ist jene
schreckliche Unmöglichkeit, das Gewissen und die Geschichte zugleich existieren
zu lassen. Dazu schreibt Pasolini „Etwas anderes habe ich von Klossowski und
Blanchot übernommen: das Modell Gottes. All diese frühen nietzscheschen
Übermenschen sind in ihrer Art, sich der Körper ihrer Opfer wie eines
Gegenstandes zu bemächtigen, in Wirklichkeit nichts anderes als auf die Erde
gekommene Götter. Ihr Vorbild ist immer Gott; In dem Augenblick, da sie dies
leidenschaftlich leugnen, machen sie es real und akzeptieren es als Vorbild“. (in Hervé Joubert-Laurencin Pasolini Portrait
du Poète en Cinéaste, Hg. Cahiers du Cinéma, 1995, S. 290). Was Pasolini damit meint,
ist eine Art Unmöglichkeit, der Symmetrie und der Macht des Auslöschens zu
entrinnen.
Doch
lässt Pasolini auch durchblicken, dass in diesem Film neben den Strahlen der
Symmetrie ein noch viel tragischerer Bruch sichtbar wird. Ein Bruch, der es uns
nicht erlaubt, aus der Geschichte zu treten, aber im übrigen auch nicht, wieder
zu ihr zurückzukehren, aber er lässt uns mitten auf dem Weg, ausgeliefert jenen
Monstern, die der Verstand gebiert, wie es in einer Radierung Goyas heißt.
Diesen Bruch stellt dieser Film dar, er inkarniert ihn. Aber noch mehr als
Bruch müsste man diesen eigenartigen Schnitt erwähnen, der sich bildet, wenn
man versucht, zwei symmetrische Hälften einer Fläche über einander zu legen.
Man könnte sagen, dies sei ein Beweis für das Unsichtbare und zugleich
Empfindsame.
Woraus
besteht dieser Schnitt? Zunächst aus der Artikulation zweier symmetrischer
Bewegungen in der Zeit. Noch einmal Georg Simmel, der von der Rückgängigmachung
des Geheimnisses spricht. „Das Geheimnis offenbart sozusagen die Möglichkeit
einer anderen Welt jenseits der sichtbaren Welt.../...In vielen Bereichen wird
die historische Entwicklung der Gesellschaft durch folgendes Prinzip bestimmt:
Etwas, das früher manifest war, wird nun durch das Geheimnis geschützt, und
umgekehrt kommt das, was früher geheim war, jetzt ohne diesen Schutz aus und
wird sichtbar – dies könnte man mit der anderen Entwicklung des Geistes
vergleichen: Was man früher mit vollem Bewusstsein ausführte, wird zu einem
unbewussten und maschinellen Prozess, und andererseits dringt das, was früher
unbewusst und instinktiv geschah, in die Klarheit des Bewusstseins“ .(a.a.O.,
S. 40)
Die
Funktionsweise der Symmetrie kommt hier deutlich zum Vorschein. Die vier
Monster enthüllen uns, was in uns als Teil des Vergessens präsent war. Es gibt
jedoch etwas, was Simmel nicht erwähnt und dessen sich Pasolini bewusst ist. Es
ist der Bruch in der Zeit, oder, wenn man so will, der Schnitt in der Zeit, der
entsteht und sozusagen die allgemein verbreitete Idee darüber auflöst, was Zeit
ist.
Was
ist das tiefste Geheimnis, über das die vier Männer gegenüber ihren Opfern
verfügen? Sie wissen, sie haben entschieden und haben die Mittel, und sie
wissen, dass sie nicht darauf verzichten werden, dass die ihrer Willkür
ausgelieferten Opfer sterben werden und dies schon sehr bald. Ihre Tage sind im
wörtlichen Sinn des Wortes gezählt, für sie ist die Geschichte abgeschlossen.
Dieses Rückwärtszählen bis zum Tod hat bereits begonnen, und sie wissen es
nicht. Ist dies nicht das Wesen des Menschen, dass er dem Tod ausgeliefert ist
und für alle Ewigkeit in diesem Abzählen der Zeit gefangen ist? Dennoch hält
sich sein Leben an diesen Glauben, dass es ein Morgen gibt, dass ein neuer Tag
möglich ist. Diese bemessene Zeit der Opfer und die Tatsache, dass sie dies
nicht wissen, ist das letzte Geheimnis, das die vier Männer besitzen. Und doch
werden die Opfer bis zum letzten Augenblick von der Hoffnung getrieben, diesem
Tod entrinnen zu können, indem sie ohne Zögern einige ihrer Komparsen verraten.
Dieses
Geheimnis also ist die tiefe Spur der Unmöglichkeit von Geschichte im Leben der
Menschen, von dem Pasolini in dem Gespräch spricht. Er sagt folgendes: „Ich
habe einen Film über Macht gedreht, aber auch über die Anarchie der Macht. Was
Macht will, ist ganz und gar willkürlich und diktiert von den wirtschaftlichen
Bedingungen, die jeglicher Logik entbehren. Aber noch mehr als ein Film über
die Anarchie der Macht thematisiert dieser Film die Inexistenz der Geschichte,
wie sie in der rationalistischen, empiristischen und marxistischen europäischen
Kultur verstanden wird. Der Film will die Inexistenz der Geschichte aufzeigen“.
Dennoch,
und damit komme ich zum Schluss, es ist nicht die Existenz des – nennen wir es
trotz allem Bösen, die ein Beweis für die Inexistenz der Geschichte wäre. An
das Böse glauben, hieße noch an die Möglichkeit glauben, das Böse ausrotten zu
können. Nein, es sind auch nicht die Folterungen am Schluss des Films, die die
Inexistenz der Geschichte belegen. Ich sage Ihnen nicht mehr über diese Szenen,
damit Sie deren Grauen ermessen können. Ich sage nur soviel dazu, dass Sie sie
interpretieren können. Sie stehen für eine metaphorische Ablehnung in dreifachem
Sinne, die Ablehnung des Wortes, des Blickes und des Denkens – die letzte Szene
kommt völlig unerwartet und konstituiert auf brutale Weise das Ende des Films.
Ja, die ganze Brutalität kommt in dieser einen Szene zum Vorschein. Ich werde
sie Ihnen nicht beschreiben. Sie ist formal scheinbar harmlos und in ihrer
Aussage die brutalste Szene des Films, und ich sage dies nicht, weil mir dieses
Paradoxon gefällt, oder als leere Provokation. Nein, in diesem Austausch der
beiden jungen Männer und kurz vor dem Abschied von den beiden anderen – hier
muss man anmerken, dass es Männer sind, die dem Massaker entkommen und die nach
Beendigung des Massakers nach Hause zurück kehren – in dieser Szene also liegt
die ganze vitale Kraft aber auch Tragik des Vergessens. Mehr noch als um das
Vergessen geht es hier um das Fehlen einer dauerhaften Spur im Bewusstsein von
etwas, das man zu einem Großteil mit erlebt hat und das ganz und gar nicht
harmlos ist. Es ist die Unmöglichkeit eines
dauerhaften Gewissens im Menschen, von der Pasolini in dem Film spricht.
Nietzsche erwähnte dies bereits in seiner „Genealogie der Moral“, wenn es da
heißt, „Nur das, was nicht aufhört weh zu tun, kann sich in das Bewusstsein
einschreiben“. Wir müssen verstehen, wenn es nicht mehr weh tut, also wenn man
nichts Böses macht oder mit ihm konfrontiert wird, dann vergisst man und kehrt
zu seiner gewöhnlichen Befindlichkeit zurück. „Der Mensch war immer schon
Konformist, dies ist einer seiner Wesenszüge, er identifiziert sich mit der
Macht, die er von Geburt an vorfindet. Ich glaube nicht, dass der Mensch frei
sein kann, die Hoffnung wurde von politischen Parteien erfunden, um ihre Wähler
bei der Stange zu halten“, sagt Pasolini in diesem Interview.
Nun
sind wir am Ende dieses großartigen und in seiner Tragik sublimen Filmes
angelangt, tragisch weniger durch die Bilder, die er zeigt, sondern durch seine
Botschaft.
Und
doch leben wir weiterhin auf dieser Erde, und wir werden immer wieder mit der
Willkürlichkeit von Gesetzen sowie politischen und wirtschaftlichen
Entscheidungen konfrontiert, die das Leben tausender Menschen gefährdet haben
und immer noch gefährden. Und noch immer sind wir an dem Punkt, wo wir glauben,
dass es morgen besser sein könnte. Ja, immer noch können wir das wahre Ausmaß
schrecklicher und in der Dimension des Katastrophalen schöner Wahrheiten nicht
begreifen, wie dies der letzte Satz aus dem großen Roman „Unter dem Vulkan“ von
Malcolm Lowry zeigt, der eigentlich ein Zitat von William Blake ist und den Sie
vielleicht kennen. Er drängt sich auf, um diese Reise in das Labyrinth der
Inexistenz der Geschichte, in dem wir leben, zu beenden: „You never know what
is enough unless you know what is more than enough“. Und wir wissen es noch
immer nicht.
Vielen
Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutsche
Übersetzung von Gaby Gappmayr